Leseprobe: Die Spur des Dschingis-Khan

Archibald Wellington Fox, der Berichterstatter der ‚Chikago Press‘, und Georg Isenbrandt, ein Oberingenieur der Asiatischen Dynothermkompanie, gingen zusammen den Bismarckdamm in Berlin entlang. Ihr Ziel war ein mächtiges Sandsteingebäude, das sich in der Nähe der Havelbrücke in monumentaler Größe erhob und einen ganzen Straßenblock einnahm. Weithin glänzte von seiner Front ein goldenes Wappen. Drei Ähren, von einer Sichel umschlungen. Darunter ein Monogramm aus den drei Buchstaben E. S. C.

Wellington Fox sprach: „Das war ein guter Zufall, dass ich dich hier in Berlin auf der Straße treffen musste. Sonst hätte ich dich im fernen Turkestan in deinem Abschnitt am Issi Kul aufsuchen müssen … wo es, wie mir scheint, für den Journalisten, das heißt in diesem Falle Kriegsberichterstattet-, nächstens gute Arbeit geben kann.“

„Du meinst, Fox?“

„Allerdings, old Fellow, meine ich. Willst du die Möglichkeit leugnen?“

„… will ich nicht. Aber …“

„Kein ‚Aber ‚“, Georg. Du willst mir wohl vorrechnen, wie viel Grad der Wahrscheinlichkeit dagegen sprechen?“

„Du irrst, mein lieber Fox!“ Ruhig, ganz gleichgültig hatte Georg Isenbrandt die Worte hingeworfen. Auf den Journalisten wirkten sie wie ein Blitz in der Nacht. Einen Augenblick blieb er wie angewurzelt stehen.

„Was willst du sagen, Georg?“

Er drängte an den Freund heran und sah ihm forschend ins Gesicht.

„Ich meine, dass erheblich viele Grade der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen … müssten. Aber meine Meinung wird von dem Direktorium der E. S. C. leider nicht geteilt.“

„Georg, Krieg! … Krieg zwischen dem Vereinigten Europa und dem großen Himmlischen Reich!“

Der andere nickte stumm. Sein gleichmäßig kühles Gesicht blieb unverändert. Nur ein leuchtendes Funkeln seiner starr ins Weite gerichteten Augen zeigte, dass sein Inneres keinen Teil an seiner äußerlichen Ruhe hatte.

In dem Gehirn des Journalisten kreuzten sich wirr tausend Gedanken. Eine Weile schritten sie wortlos nebeneinander her.

„Du weißt, Wellington, dass unsere Unterhaltungen keine Interviews sind. Der Journalist Wellington Fox, von der ‚Chikago Press‘, hört von unseren Gesprächen nichts.“

„Kein Zweifel, Georg. Doch sag, zu welchem Zweck bist du hier in Berlin?“

„Um einen letzten Versuch zu machen … die Herren der E. S. C. zu meiner Ansicht zu bekehren. Ich habe um fünf Uhr eine Konferenz mit ihnen.“

„Und wenn …? Was wird dann aus dem großen Werk der E. S. C.? Den Hunderttausenden von europäischen Siedlern in Turkestan … und deinen großen Arbeiten? Werden sie nicht durch den Krieg schwer leiden?“

„Du fürchtest für sie? … Ich nicht, wenn man mir folgt … sie zu verteidigen … zu sichern auf Menschenalter … darauf gehen meine Pläne … und wäre dazu Krieg nötig.“

Jede Gleichgültigkeit war jetzt von dem Sprecher abgefallen. Ein eiserner Wille, eine unbeugsame Energie prägte sich auf dem scharf geschnittenen Gesicht mit der kantigen Stirn aus.

Staunen, Überraschung … Bewunderung malten sich in den Zügen des Journalisten. Mit einem zweifelnden Blick maß er die Gestalt des einstigen Schulkameraden.

„Georg, Krieg! Das Wort riecht nach Blut!“

„Hat es stets getan … und wird es immer tun, solange Krieg die Ultima ratio menschlicher Zwistigkeiten ist … das heißt so lange Menschen leben werden“

Ein Augenblick des Schweigens.

„Nur eins möchte ich dich noch fragen.“ Ein besorgter Unterton klang aus der Stimme des Sprechenden. „Bist du dir auch bewusst, mit welchem furchtbaren Gegner Europa … du … zu kämpfen haben würdest? Das große geeinte Asiatische Reich ist eine Macht, wie sie die Geschichte der Völker selten gekannt hat. Sein Herrscher, der Großkhan Schitsu, ist ein Mann vom Blut und Schlage des Dschingis Khan.“

„Ich weiß es. Die Gefahr ist groß! Aber sie wird mit jedem Jahr größer … bis sie eines Tages das Abendland verschlingen wird. Deshalb heißt es ihr zu begegnen … jetzt, ehe es zu spät ist.

Der Großkhan ist todkrank. Ob er am Leben bleibt? … Wer weiß es? Stirbt er, wird man mir leichter folgen. Die Angst vor ihm ist größer als vor seinem Land. Doch wir sind am Ziel.“

Er deutete auf den Sandsteinpalast, den sie jetzt erreicht hatten.

„Was da drinnen in den nächsten Stunden beschlossen wird, ist entscheidend für das Wohl und Wehe von Millionen Menschen, für das Schicksal zweier Kulturen.“

Unwillkürlich hatte sich seine Hand erhoben und stand fragend und drohend gegen die stummen Quader des Riesenbaues gereckt, der hier wie eine Burg aus dem märkischen Sand ragte. Denn senkte sie sich langsam in die des Freundes.

„Auf Wiedersehen, dann heute Abend bei dir im Hotel.“ Noch ein Händedruck, und Georg Isenbrandt trat durch das Hauptportal in das Gebäude ein. Unschlüssig blieb Wellington Fox auf der Straße stehen. Dann begann er, die Inschriften an dem Gebäude zu studieren. In den steinernen Ornamenten der Portalwölbung wiederholten sich das Ährenmotiv und die verschlungenen drei Buchstaben E. S. C. Jetzt ruhte sein Blick auf den Inschriften in der Höhe des ersten Stockwerks breit und massig leuchteten von dort goldene Buchstaben … Europäische Siedlungs-Compagnie … Daneben in englischer Sprache „European Settlements company“. Wieder etwas weiter stand es auf Russisch: Jewropeiskoje Obschtschestwo dlja naselenija Wostoka.

Das Haus hier war das Verwaltungsgebäude der großen, von den europäischen Staaten mit einem Milliardenkapital begründeten Siedlungsgesellschaft, die den Überschuss der europäischen Bevölkerung seit zehn Jahren in Asien ansiedelte. Auf meilenweiten Ländereien, die, vordem unfruchtbare Steppen, nach der Erfindung des Dynotherms bestes Ackerland geworden waren. Hier in Berlin war der Hauptsitz dieser großen internationalen und mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestatteten Gesellschaft. Ihr Arbeitsgebiet lag in Asien. Dort reichte es vom Kaspischen Meer bis zu den Grenzen des chinesischen Reiches. Dort dampften die Hochalpen unter der Wirkung des Dynotherms. Dort kochten die großen Seen, und warmer, über das ganze Jahr verteilter Regen schuf fünfzigfältige Ernten, wo früher wandernde Kirgisen kaum das Notwendigste fanden.

Wellington Fox war mit der Betrachtung des Gebäudes zu Ende und ging weiter, dem Grunewaldpark zu. Die letzten Worte seines Freundes gaben ihm reichlich Anlass zum Nachdenken. Seine Gedanken weilten abwechselnd im Fernen Osten und im Palast der E. S. C. Und so übersah er es, wie eine elegant gekleidete Gestalt, die ihm entgegenkam, bei seinem Anblick schon von Weitem einen Bogen schlug, um auf die andere Seite der Straße zu gelangen und dann im Haus der E. S. C. zu verschwinden.

Ein dumpfer Knall riss ihn wenige Minuten später aus seinem Sinnen. Der Luftdruck einer schweren Explosion brachte ihn für einen Augenblick ins Wanken. Mit einem Ruck warf er sich herum und sah aus den zersplitterten unteren Fenstern des E.S.C.-Gebäudes dünne Rauchschwaden ziehen.

Instinktiv lief er auf den Eingang des Gebäudes zu. Durch die aufgerissenen Flügeltüren drang er in das Haus ein und stürmte die Treppen empor. Ein Gemisch von Staub und Rauch benahm ihm fast den Atem. Eine schreiende, in ihrer Aufregung sinnlose Menge drang ihm entgegen. Zwischendurch … darüber hinweg bahnte er sich seinen Weg bis in das zweite Stockwerk, wo er den Freund wusste.

Hier war es ruhiger. Hier ließ auch der Qualm nach. Fox lief über einen Korridor und sah die Person, die ihm auf der Straße entgangen, in einen Seitengang verschwinden. Mit einem Ruck blieb er stehen. Ein sekundenlanges Zögern. Dann schlug er den entgegengesetzten Weg zu dem Direktionszimmer ein. Noch ehe er sie erreicht, kam ihm Georg Isenbrandt mit einigen Herren entgegen.

„Georg, was ist los?“

„Das wissen wir selbst noch nicht. Wir müssen die Untersuchung abwarten.“

„Ein verbrecherischer Anschlag?“

„Nicht so eilig! Warte mit deinen Mails, bis die Untersuchung Klarheit geschaffen hat.“

Der Donner einer zweiten, schwächeren Explosion in der Nähe verschlang die letzten Worte Isenbrandts. Ohne sich noch aufhalten zu lassen, stürmte der Amerikaner dem Weg nach, den der Fremde vorher eingeschlagen hatte. Die zweite Explosion hatte neue Rauchmengen entwickelt. Er konnte kaum sehen und atmen, lief durch einen anderen Korridor rüttelte an verschlossenen Türen und stieß schließlich auf eine Tür, die nachgab. Sah zuerst einen mächtigen Tresor, der durch die Gewalt der Explosion von oben bis unten aufgerissen war. Die Kraft der Sprengung hatte die in ihm verwahrten Dokumente durch das Zimmer zerstreut. Sah dann nur undeutlich in dem rauchgefüllten Raum, wie der Gesuchte bemüht war, mehrere Schriftstücke in seinen Taschen verschwinden zu lassen. Mit ein paar tigerartigen Sätzen schoss Wellington auf ihn los. Doch noch schneller hatte der Fremde die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen. Als Wellington Fox die Klinke berührte, hörte er, wie der Schlüssel im Schloss von außen umgedreht wurde. Im selben Augenblick ließ er sie auch schon los, um über den Flur einen anderen Eingang zu diesem Zimmer zu suchen. Doch umsonst. Alle Türen waren verschlossen.“

Wellington Fox blieb stehen. Das Vergebliche einer weiteren Verfolgung hier im Gebäude war ihm klar.

Wo ihn finden? … Ah! … Schon lief Fox dem Hauptportal zu.

*

Seine Exzellenz Wang Tschung Hu, der chinesische Botschafter beim deutschen Staat, saß allein in seinem Arbeitszimmer. Nervös spielte seine Rechte mit einem Bleistift, während sein Auge den langsamen Fortgang des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt verfolgte. Hier war er allein, hier brauchte er nicht die unerschütterliche Miene eines asiatischen Diplomaten zur Schau zu tragen, und seine Ungeduld kam in seinen Zügen und Bewegungen deutlich zum Ausdruck.

Er unterbrach das Spiel mit dem Bleistift nur, um hin und wieder das Telefon vom Haken zu nehmen und kurze Fragen zu stellen.

Die Uhr hub aus und schlug halb sechs. In ihren verhallenden Schlag mischte sich der Klang der Telefonglocke.

Die Meldung des Sekretärs, dass Mr. Collin Cameron soeben die Botschaft betreten habe.

Wang Tschung Hu legte den Apparat wieder auf die Gabel, suchte einen Moment zwischen verschiedenen an dem großen Diplomatentisch befestigten Hebeln und legte einen davon um. Im gleichen Augenblick war ein Telefon auf seinem Tisch mit den Lauschmikrofonen verbunden, die sich in der Wohnung des Hausmeisters der Botschaft befanden. Jedes Wort, das dort unten gesprochen oder auch nur geflüstert wurde, musste hier oben klar und deutlich aus dem Apparat kommen.

Die Gründe, die seine Exzellenz Herrn Wang Tschung Hu veranlasst hatten, diese Verbindung zwischen seinem Schreibtisch und der Wohnung seines Hausmeisters herstellen zu lassen, waren von besonderer Art. Wutin Fang, der da unten in der bescheidenen Stellung eines Hausmeisters wirkte, war in Wirklichkeit chinesischer Generalstabsoffizier und Chef der asiatischen Spionage in Europa. Der Botschafter musste jederzeit offiziell versichern können, dass er Leute wie jetzt diesen Mr. Collin Cameron nicht kenne, sie niemals gesehen oder gesprochen habe. Aber seine Exzellenz hatte ein großes und berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, was solche Leute mit Wutin Fang verhandelten. So saß Wang Tschung Hu jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit vor dem Telefon. Stimmen erklangen aus dem Apparat.

„Was bringen Sie uns, Mister Cameron?“ …..

Zum Buch:

Die Spur des Dschingis-Khan: Roman vom Ende des Jahrhunderts